Ausgangssituation 1945

US-amerikanisches Flugblatt

UA-ame­ri­ka­ni­sches Flug­blatt, Quel­le: Chris­tia­ne Weber. Die US-ame­ri­ka­ni­schen Streit­kräfte rie­fen auf Flug­blät­tern, die sie über Deutsch­land abwar­fen, die Sol­da­ten und die Bevöl­ke­rung auf, sich zu erge­ben. Da vie­le deut­sche Sol­da­ten die­sem Auf­ruf vor dem nahen­den Kriegs­ende folg­ten, stieg die Zahl der Kriegs­ge­fan­ge­nen sprung­haft an.

Im Früh­jahr 1945 mach­ten die Alli­ier­ten auf deut­schem Boden an allen Fron­ten Kriegs­ge­fan­ge­ne. Zahl­rei­che Sol­da­ten der Wehr­macht folg­ten dem Auf­ruf auf Flug­blät­tern, sich zu erge­ben. Laut ame­ri­ka­ni­schen Quel­len stieg die Zahl der Kriegs­ge­fan­ge­nen allein in der Woche vom 1. bis 8. Mai 1945 um eine Mil­li­on Sol­da­ten an. Die­se Gefan­ge­nen muss­ten nun ver­sorgt wer­den, sie waren oft ver­letzt, erschöpft und ausgehungert.

Die all­ge­mei­ne Situa­ti­on war aus meh­re­ren Grün­den schwie­rig: Euro­pa war sechs Jah­re lang Kriegs­schau­platz gewe­sen, Mil­lio­nen Men­schen lit­ten unter den Fol­gen des Krie­ges und hun­ger­ten in den zer­stör­ten Städ­ten. Eben­falls waren fast über­all die Trans­port­we­ge und ‑mit­tel, Brü­cken, Bahn­hö­fe – kurz: die gan­ze Infra­struk­tur – zer­stört wor­den. Die Alli­ier­ten muss­ten in kür­zes­ter Zeit die Ver­sor­gung der eige­nen Sol­da­ten, der Über­le­ben­den aus den befrei­ten Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, der ehe­ma­li­gen Zwangs­ar­bei­ter – die bei­den letz­te­ren Grup­pen fass­te man unter dem Begriff Dis­pla­ced Per­sons (DPs) zusam­men –, der Zivi­lis­ten in zer­bomb­ten Städ­ten und der Kriegs­ge­fan­ge­nen orga­ni­sie­ren, ohne über genü­gend Res­sour­cen zu ver­fü­gen. Es soll­te vor allem zunächst die Ernäh­rung der ame­ri­ka­ni­schen Sol­da­ten, der DPs und der deut­schen Zivi­lis­ten gesi­chert wer­den – den Kriegs­ge­fan­ge­nen konn­ten und woll­ten die US-Trup­pen kei­ne Son­der­rech­te einräumen.

Die Alli­ier­ten waren schlicht­weg nicht auf die gro­ße Zahl der Kriegs­ge­fan­ge­nen vor­be­rei­tet. Wei­te­re Trans­por­te in die Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­ger in Frank­reich und Bel­gi­en waren in dem bis­he­ri­gen Aus­maß nicht mög­lich. Die geschei­ter­te deut­sche Arden­nen­of­fen­si­ve, die Über­que­rung des Rheins bei Rema­gen durch ame­ri­ka­ni­sche Streit­kräf­te am 7. März 1945 und die Kapi­tu­la­ti­on im soge­nann­ten Ruhr­kes­sel lie­ßen die Zahl der deut­schen Sol­da­ten in west­al­li­ier­ter Kriegs­ge­fan­gen­schaft explo­si­ons­ar­tig anstei­gen. Allei­ne bei der Kapi­tu­la­ti­on im Ruhr­ge­biet gerie­ten Mit­te April 1945 ca. 325.000 deut­sche Sol­da­ten in Gefan­gen­schaft. Als Deutsch­land schließ­lich im Mai 1945 kapi­tu­lier­te, wuchs die­se Zahl wei­ter: Wäh­rend zu Beginn des Jah­res 1945 etwa 300.000 bis 370.000 Deut­sche in ame­ri­ka­ni­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft waren, stieg die Zahl in den Wochen um die Kapi­tu­la­ti­on auf fast 2,6 Mil­lio­nen Sol­da­ten sprung­haft an. Ein Grund dafür ist, dass sich vie­le deut­sche Sol­da­ten bewusst in ame­ri­ka­ni­sche Kriegs­ge­fan­gen­schaft bega­ben, weil sie sich dort eine bes­se­re Behand­lung erhofften.

Als die bri­ti­sche Hee­res­lei­tung im Febru­ar 1945 die Ver­sor­gung für die deut­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen ableh­nen muss­te, weil sie die­se nicht mehr leis­ten konn­te, blieb die Ver­ant­wor­tung für die Unter­brin­gung der Kriegs­ge­fan­ge­nen zunächst ganz den Ame­ri­ka­nern über­las­sen. Die­se leg­ten ins­ge­samt 200 Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­ger ver­schie­de­ner Grö­ße in ganz Euro­pa an, um die Men­schen­mas­sen unter­zu­brin­gen. Die Rhein­wie­sen­la­ger waren die größ­ten und von den Lebens­be­din­gun­gen här­tes­ten die­ser Lager.

Die Hal­tung der Allier­ten zu den deut­schen Kriegsgefangenen

Da in den Mona­ten März bis Mai 1945 noch Krieg herrsch­te, kon­zen­trier­ten sich die US-Trup­pen vor­ran­gig auf den mili­tä­ri­schen Sieg und nicht auf die Ver­sor­gung der Kriegs­ge­fan­ge­nen. Im Ver­lauf der letz­ten Kriegs­mo­na­te befrei­ten alli­ier­te Ein­hei­ten zudem Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger wie Ber­gen-Bel­sen oder Buchen­wald und wur­den so zu Augen­zeu­gen der Ver­bre­chen, die dort began­gen wor­den waren.

Deckblatt Nr.9

Tagungs­band Nr.9 “Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­ger 1939–1950” her­un­ter laden (Bild anklicken)

Eben­falls wur­de bekannt, wie men­schen­un­wür­dig die deut­sche Wehr­macht ihrer­seits mit Kriegs­ge­fan­ge­nen, beson­ders mit den sowje­ti­schen, umge­gan­gen war. Dies beein­fluss­te sicher­lich auch die Hal­tung gegen­über den deut­schen Gefan­ge­nen. Feind­bil­der, die in der ame­ri­ka­ni­schen Kriegs­pro­pa­gan­da jah­re­lang genutzt wur­den und sich oft auch mit dem Bild deck­ten, das die Natio­nal­so­zia­lis­ten von sich selbst ent­war­fen, wirk­ten sich eben­falls auf die Behand­lung in den Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­gern aus. Dazu gehör­ten die Vor­stel­lun­gen etwa vom nie­mals enden­den Kamp­fes­wil­len natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Unter­grund­or­ga­ni­sa­tio­nen wie dem Wer­wolf oder der Erzie­hung der Jugend zu fana­ti­schen Kämp­fern in Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Erzie­hungs­an­stal­ten (Napo­la). Sie lie­ßen der ame­ri­ka­ni­schen Mili­tär­re­gie­rung eine sehr brei­te Ver­haf­tungs­wel­le fol­ge­rich­tig erschei­nen, da die Sicher­heit der eige­nen Sol­da­ten Vor­rang hat­te. Daher wur­den neben Bür­ger­meis­tern auch Zivi­lis­ten – vor allem wenn sie eine Uni­form tru­gen, wie etwa Poli­zis­ten, Förs­ter, Bahn- und Post­be­diens­te­te – in Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­ger gebracht, sofern sie nicht in soge­nann­ten Zivil­ge­fan­ge­nen­la­gern inter­niert wur­den. Jugend­li­che und alte Män­ner über 60 Jah­re gerie­ten in Kriegs­ge­fan­gen­schaft, wenn sie im Ver­dacht stan­den, ent­we­der dem Volks­sturm oder dem soge­nann­ten Wer­wolf anzu­ge­hö­ren. Let­zerer war eine NS-Unter­grund­or­ga­ni­sa­ti­on, die in bereits von den Alli­ier­ten besetz­ten Gebie­ten mit Sabo­ta­ge­ak­ten den Kriegs­ver­lauf noch beein­flus­sen soll­te. Noch kurz vor Kriegs­en­de wur­de im Sep­tem­ber 1944 unter Befehl von Hein­rich Himm­ler mit dem Volks­sturm ein ‚letz­tes Auf­ge­bot‘ ein­be­ru­fen. Von der NS-Pro­pa­gan­da ange­sta­chelt, hat­ten sie an man­chen Orten ver­bis­sen den sinn­lo­sen End­kampf geführt und dabei vie­le Tote auf alli­ier­ter Sei­te verursacht.